Montag, 2. Juli 2018

Wie man das Jura-Staatsexamen in 4 Monaten bestehen kann

Im Oktober 2017 habe ich einen Bescheid erhalten, wonach ich das juristische Staatsexamen nachzuschreiben hätte, wenn ich zum Vorbereitungsdienst (Referendariat) zugelassen werden wolle. Ich hatte um eine Ausnahme davon gebeten, weil ich bereits in einem ausländischen Staat (innerhalb Europas) eine Zulassung zur Anwaltsausbildung habe. Unter gewissen Voraussetzungen werden ausländische Absolventen zum Referendariat zugelassen, wenn deren „Kenntnisse und Fähigkeiten den durch die bestandene staatliche Pflichtfachprüfung ... bescheinigten Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechen.“ Mit Pflichtfachprüfung ist das Staatsexamen gemeint.

Das OLG entsprach meinem Antrag nicht. Weil das nächste Staatsexamen auf Anfang März 2018 festgesetzt war, hatte ich vier Monate Zeit, mich auf eine Prüfung vorzubereiten, auf die sich die meisten Mitstreiter über ein Jahr vorbereiten. Um die Sache auch nicht zu einfach für mich zu machen, musste ich im November zudem noch einer Vollzeitstelle nachgehen. 

Wer versucht, Tipps, Hinweise oder Erfahrungen zu einem solchen Unterfangen zu finden, hat schnell alle verfügbaren Quellen abgegrast. Ein paar Artikel und Beiträge habe ich zwar hier und da gefunden. Der ganz große Tenor ist jedoch, dass eine Vorbereitung unter einem Jahr kaum möglich ist. Man findet Lernpläne für eine Vorbereitung von einem Jahr, YouTube-Videos und ganze Bücher für eine perfekte Vorbereitung. Was aber, wenn man nur vier Monate Zeit hat?

Vergangene Woche erhielt ich den Bescheid, dass ich bestanden habe.

Falls es unter euch jemanden gibt, der aus irgendwelchen Gründen vor dem Problem steht, das Staatsexamen in wenigen Monaten schreiben zu müssen, möchte ich euch hier meine Erfahrungen weitergeben. Ich plane nicht, weitere Beiträge dazu zu erstellen. Auf Fragen und Hinweise antworte ich in den Kommentaren gerne.

Mit was kann ich euch nicht dienen? Ich kann euch keine Anleitung geben, wie ihr ein Prädikatsexamen in vier Monaten schreiben könnt. Ich schreibe noch nicht einmal für jemanden, der gute Noten will. Ich schreibe für Kandidaten, die bestehen wollen und nur wenige Monate zur Vorbereitung haben.

Ein kommerzielles Repetitorium habe ich nicht gemacht. Allerdings habe ich mir viele kostenlose Videos von Jura-Online auf YouTube angeschaut. Vielen Dank Sören!

Fangen wir an. 

I. These 1: Man braucht mindestens ein Jahr Vorbereitung, um das Staatsexamen zu bestehen

Es scheint ein fast unwiderlegbares Axiom mit bibelgleicher Gültigkeit: Für das Staatsexamen muss mindestens ein Jahr gelernt werden. Erstaunlich ist, wie wenig Juristen eine konkrete Frage dazu beantworten können: Wieso? Wieso brauche ich nicht 11 Monate? Oder 9? Wieso wird nicht unterschieden, ob ich das Staatsexamen einfach bestehen möchte, oder ein Prädikat erreichen will?

Ebenso interessant ist, wieso bei der Zeitspanne nicht nach Fähigkeiten, Motivation, Wissen, Selbstdisziplin oder Wille unterschieden wird. Es kann offensichtlich nicht sein, dass die Vorbereitungszeit für einen dauerhaft strebsamen Studenten, der ein Prädikatsexamen anstrebt, gleich viel Zeit benötigen wird, wie ein notorischer Querulant, der Vier-Gewinnt spielt (ordnet mich in Kategorie 2 ein).

Wenn ihr das Buch Outliers von Malcolm Gladwell gelesen habt, kommt euch dieses Phänomen vielleicht bekannt vor. Gladwell beschrieb in seinem Buch die 10 000-Stunden-Regel. Angeblich habe Gladwell geschrieben, es brauche 10 000 Stunden Übung, um eine neue Fähigkeit zu lernen. Um das in Perspektive zu Stellen: Unter der Annahme, dass ihr jeden Tag im Jahr, auch an Wochenenden, acht Stunden mit gleich hoher Intensität übt, kommt ihr bei 360 Tagen auf 2 880 Stunden. Ihr müsstet also beinahe dreieinhalb Jahre mit dieser Intensität lernen, um eine neue Fähigkeit zu lernen. Machen wir einen Realitätscheck: Wenn ein 5-jähriger das erste Mal vor einem Schachbrett sitzt, braucht er dann dreieinhalb Jahre, um die Regeln zu verstehen und gegen mich zu spielen? Ich denke nicht.

Nichts desto trotz wird die 10 000-Stunden-Regel immer wieder zitiert. Dabei schrieb Gladwell etwas Anderes. Er untersuchte, wie lange es dauert, Expertenniveau zu erreichen. Dieser Teil ging irgendwann einfach unter. „10 000 Stunden“ geht viel einfacher über die Lippen, als „10 000 Stunden, um Expertenniveau zu erreichen“.

Das hindert Autoritäten natürlich nicht daran, ihre Kenntnisse weiterzugeben, selbst wenn Sie das Buch nie gelesen – oder schlimmer: nicht verstanden – haben. Wie verrückt diese ganze Geschichte ist, zeigt Josh Kaufmann in seinem TED-Vortrag. Es ist ein unglaublich guter Vortrag, vor allem, wenn ihr eine neue Aufgabe in kurzer Zeit bewältigen müsst. Wollt ihr wissen, wie lange es dauert, um die Grundlagen einer neuen Materie zu beherrschen? 20 Stunden.

Ich bin der Überzeugung, dass in Bezug auf das Staatsexamen etwas Ähnliches geschah. Irgendjemand fand einmal für sich heraus, dass er ein Jahr brauchte, um das Staatsexamen mit guten Noten abzuschließen. Weil wir alle gerne stille Post spielen, wurde daraus irgendwann ein Jahr Vorbereitung auf das Staatsexamen, dann mindestens ein Jahr auf das Staatsexamen und irgendwann man kann das Staatsexamen nicht bestehen, ohne mindestens ein Jahr vorbereitet zu sein. Aber es gibt genügend Beispiele von Kandidaten, die es in weitaus weniger Zeit geschafft haben. 

II. These 2: Das Staatsexamen gehört zu den schwierigsten Klausuren überhaupt. Beweis dafür ist eine regelmäßige 30%–Durchfallquote

Ich habe zwei Probleme mit dieser Aussage.

1. Die Zahl an sich ist nominell richtig. Dennoch stellt sie die Realität falsch dar. Machen wir ein Gedankenexperiment. Stelle dir eine Stadt vor, wir nennen sie Autostadt. In Autostadt gibt es 10 Autofahrer, alle haben verschiedene Autos. Alle 10 Fahrer unternehmen am gleichen Tag eine Fahrt. Hubert Arbeitsfroh fährt morgens zur Arbeit, als völlig überraschend sein linker Vorderreifen platzt, das Auto zu schleudern beginnt und – ohne Hubert weiter zu verletzen – in eine Laterne schlittert. Frau Schusselig steigt kurze Zeit später in ihr Auto, verwechselt Brems- mit Gaspedal und rammt das ihr vorstehende Auto. Ein paar Stunden später steigt Heino Immerdicht, prallgefüllt, nachdem er 10 Bier seinen Rachen hinunterschüttete, in sein Auto und fährt los. Er zündet sich eine Marlboro an, telefoniert mit seiner blonden Kollegin und versucht gleichzeitig, den Radiosender zu wechseln; er übersieht eine Ampel und rast in ein entgegenkommendes Auto (auch hier bleiben alle unverletzt).

Statistisch gesehen gibt es an diesem Tag eine Unfallquote von 30%. Würde irgendjemand von euch diese 30%-Statistik ernst nehmen? Es ist vollkommen klar, dass der Unfall von Heino Immerdicht nicht mit dem Unfall von Hubert Arbeitsfroh zu vergleichen ist. Frau Schusselig fuhr noch nicht einmal richtig los.

Aber die Einwohner von Autostadt sind beunruhigt. Drei Unfälle an einem Tag? Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen! Es muss an Autostadt liegen! Journalisten beginnen, über die gefährlichen Straßenzustände zu berichten. „Die gefährlichsten Straßen Deutschlands“, schreibt die Tageszeitung am nächsten Morgen. Politiker fordern finanzielle Unterstützung, um den Zustand der heruntergekommenen Straßen zu verbessern. Ampeln seien nur unzureichend gewartet. Und sowieso waren die Straßen schon immer schlecht geplant.

Zwei Monate später ist die Unfallstory vergessen. Doch von nun an werden die Einwohner, nach spannenden Geschichten ihrer Stadt gefragt, voll Stolz und Ehrfurcht von der „gefährlichsten Stadt Deutschlands“ und einer „30%-Unfallquote“ erzählen. 

Das ist menschliches Verhalten und es geschieht allen von uns. Gedankliche Abkürzungen passieren uns vor allem dann, wenn die unterliegenden Daten nur mit Mühe aufzufinden oder schwierig erklärbar sind. Das ändert aber nichts an der Realität. Ob ich einen Sachverhalt für richtig oder falsch erachte, interessiert den Sachverhalt nicht. Meine Theorie ist dem Sachverhalt egal. Wichtiger noch: Selbst, wenn alle Menschen dieser Erde meine Version des Sachverhalts glauben, ändert es den Sachverhalt nicht. Die Erde wurde nicht deswegen flach, weil die Menschheit davon überzeugt war.

Und so verhält es sich mit der Durchfallquote im Staatsexamen. Es wird nicht unterschieden, wer durchgefallen ist. Wie denn auch? Die Examinatoren wissen nicht, wer von den Kandidaten Prüfungsangst hatte, nicht antrat, krank oder nicht vorbereitet war oder gar nicht antreten wollte. Sie wissen ebenso wenig, welche Schreiberlinge gut vorbereitet und in guter Verfassung waren, aber dennoch nicht bestanden haben. Daher landen alle Kandidaten im selben Pool und deswegen stimmt die 30%-Durchfallquote nominell. Aber wie ihr gesehen habt, sind 30% nicht gleich dreißig Prozent.

2. Mein zweites Problem mit dieser These ist das Folgende: Nehmen wir einmal an, dass alle Kandidaten tatsächlich gleich geeignet wären (stellt euch eine Halle voller Klone vor) und diese zu 30% durchfallen. Ist das wirklich eine schlechte Quote?

Probieren wir es aus. Ich biete euch eine Wette an, bei der ihr eine Münze werfen könnt. Kopf, ihr gewinnt, Zahl, ich gewinne. Hier kommt der Clou: Ihr dürft die Münze so bearbeiten, dass sie zu eurem Vorteil fällt. Genaugenommen wird sie bei 10 Würfen 7 x Kopf zeigen und 3 x Zahl. Würde jemand von euch denken „Lieber nicht, ich habe ja eine 30% Wahrscheinlichkeit zu verlieren.“ Natürlich nicht. Wenn 30% aller Kandidaten durchfallen, heißt das gleichzeitig, dass 70% aller Kandidaten bestehen.

Für mich war daher eine wichtige Erkenntnis, dass ich die 30%-Quote nicht zu ernst nahm. Wenn die Quote auf ihre Einzelteile heruntergebrochen wird und ein wenig einfaches Wahrscheinlichkeitsdenken angewendet wird, sehen die Chancen objektiv betrachtet gar nicht schlecht aus. Die große Kunst besteht darin, sich nicht von psychologischen Faktoren täuschen zu lassen. Für mich war die Vorbereitung daher insofern einfacher, weil ich nicht täglich von Leuten an der Universität umgeben war, die sich gegenseitig verrückt gemacht haben. 

III. Vorbereitung auf die Lernerei

Ihr müsst euch vorstellen, dass mir ein Großteil der zu lernenden Rechtsgebiete zwar bekannt war, allerdings hatte ich mich seit mehr als fünf Jahren nicht mehr damit beschäftigt. Ich begann also erst einmal damit, mir das Gesetz meines Bundeslandes herauszusuchen, in dem geregelt ist, was abgefragt werden darf, und was nicht. Die Ergebnisse unterteilte ich in einzelne Blöcke. Danach suchte ich nach Quellen, die mir einen Indikator gaben, welche Gebiete im Staatsexamen wie oft abgefragt wurden. Denn es ist wahrscheinlicher, dass ich mich in drei Klausuren Zivilrecht (ZR; Öffentliches Recht ist ÖR) mindestens ein Mal mit dem Schuldrecht Allgemeiner Teil (AT) auseinandersetzen muss, als mit Erbrecht. Nach meinen Schätzungen – die wohlgemerkt nicht auf wissenschaftlicher Genauigkeit basieren – ca. sieben Mal mehr. Wenn ich nun einen Monat lang Schuldrecht AT lerne, sollte ich ca. vier Tage Erbrecht lernen. Das war meine Herangehensweise.

Als ich meine Analyse fertig hatte, stellte ich etwas fest, mit dem ich nicht gerechnet hätte: Ich würde es zeitlich nicht schaffen, alle drei Themengebiete (ZR, ÖR und Strafrecht) abzuarbeiten. Allerdings war dies zum Bestehen auch nicht nötig. Ich musste insgesamt drei Klausuren bestehen, davon mindestens eine aus dem ZR und mindestens eine aus entweder ÖR oder Strafrecht. Ich musste mich für eines der zwei Gebiete entscheiden.

Meine Logik war, dass ich im besten Fall zehn Tage bräuchte, um Strafrecht zu bestehen (und das war bereits seeeeeeeeehr großzügig gerechnet). Ich könnte diese Tage auch nutzen, um je fünf Klausuren im ZR und ÖR zu schreiben. Warren Buffett bringt diese Herangehensweise wie Folgt auf den Punkt: Diversifikation ist angebracht für Investoren, die nicht wissen was Sie tun. Wer hingegen eine Sache sehr gut versteht, ist verrückt, wenn er sein Geld in ihm unbekannte Unternehmen anlegt, nur um sein Risiko zu streuen. Oder wie Andrew Carnegie sagte: „Lege all deine Eier in einen Korb und bewache den Korb.“

So beschloss ich, Strafrecht nicht zu lernen und die Klausur erst gar nicht anzutreten. 
Das war meine erste kluge Idee. Denn so viel vorab: Ich habe alle ZR- und ÖR-Klausuren bestanden. Strafrecht trat ich schlussendlich zwar an, hatte aber am Tag zuvor das erste Mal überhaupt das StGB aufgeschlagen. Ich erreichte 2 Punkte (stellt euch vor, ich hätte 10 Tage mehr Zeit gehabt!). 

IV. Lernen

Im November konnte ich erst nach Feierabend lernen, was mir ca. vier Stunden pro Tag lies. Hier eine weitere Erkenntnis: Vier Stunden fokussiertes, zielorientiertes Lernen, ist effektiver als 10 Stunden Wischiwaschi-Lernerei. Ich kann dazu jedem die Bücher Fokus von Dan Goleman und Deep Work von Cal Newport empfehlen.

Weihnachten und Silvester war ich zwar anwesend, verbrachte die Tage aber vor allem mit Lernen. Alkohol war vier Monate lang Tabu. Ab Januar ging ich ins Fitnessstudio, um meinen Kreislauf in Schwung zu bringen und meinen Rücken darauf zu trainieren, mehrere 5-Stunden–Klausuren ohne Beschwerden durchsitzen zu können. Ich stand also drei Mal pro Woche morgens um fünf Uhr auf, war um sechs Uhr laufen und um acht Uhr in der Bibliothek. Ich experimentierte, wie sich verschiedenes Essen auf meine mentale Fähigkeit auswirkte. Zucker war auf ein Minimum reduziert, insbesondere, wenn ich am nächsten Tag Klausur schrieb. Fisch, Hafer, Nüsse und Obst waren Dauernahrung, ich trank nur Wasser oder kalten Tee, dafür literweise.

Nun zum eigentlichen Lernen. Ich teilte mir meine Wochen auf einzelne Tage in ZR und ÖR ein. Bis Dezember lernte ich auch an Sonntagen, allerdings nur leichte Kost (Karteikarten und Lesen). Ab Januar nahm ich mir die Sonntage frei.

Die ersten Wochen nutzte ich vor allem, um einen Überblick zu bekommen. Skripte von RA Hofmann und die Bücher von Winfried Schwabe bildeten den Kern. Ganz selten schlug ich weitere Quellen nach. Ich begann direkt Klausuren zu schreiben, wenn auch nicht sofort unter Echtzeit. In meinen Klausuren bin ich nie durchgefallen, sondern vermerkte noch nicht ganz, und notierte mir abschließend, was ich hätte tun müssen, um zu bestehen. Ein Trick, den ich ebenfalls aus einem TED-Talk habe.

Das brachte mich auf meine zweite Kluge Idee. „Invertieren, immer invertieren.“ Diese Weisheit geht auf den Mathematiker Jakobi zurück. Wenn Jakobi vor einem Problem stand, drehte er es einfach herum. Für das Staatsexamen angewandt bedeutet das, nicht zu schauen, wie man besteht, sondern festzustellen, durch welche Fehler man garantiert durchfällt und diese Fehler zu vermeiden. Ich suchte also nach Hinweisen, was eine schlechte Klausur ausmacht. Hier ein paar Dinge, die ich fand und wie ich sie anging:

1. Schlechte Schrift und schlechter Stil:

Studien zeigen, dass die Laune eines Lesers sinkt, wenn er einen komplizierten Text liest (und ihr fragt euch, weshalb Juristen so griesgrämig sind). Das ist ein Grund, wieso ich die Bücher von Winfrid Schwabe so gerne las und Kommentare vermied. Weil die Klausur von Hand geschrieben werden muss, gehört dazu selbstverständlich auch eine lesbare Schrift. Also kaufte ich mir Füller und Tintenkiller. Ich suchte nach Büchern und Videos zu Schönschrift (kein Witz!) und schrieb regelmäßig mit der Hand. Ich achtete auf einheitliche Formatierung, Nummerierung, Abstände, Leerzeichen... Alles mit dem Ziel, dies im Staatsexamen automatisiert zu haben.

2. Gutachtenstil nicht beherrscht:

Ich las mehrerer Bücher zum Gutachtenstil und fragte mich auf Karteikarten ab, was der genaue Fehler eines beispielhaft falsch formulierten Obersatzes war. Ich lernte die Obersätze für wichtige Normen auswendig.

3. Niederschrift ohne fertige Lösungsskizze:

Sören von Jura-Online nennt das „Springen von Phase 2 auf Phase 3.“ Ich kann euch gar nicht sagen, wie wahr das ist. Einmal im Staatsexamen musste ich aus Zeitgründen ohne fertige Skizze losschreiben. Das Blatt sah am Ende aus wie Waterloo, nachdem Bonaparte auf Blücher traf. Schreiben ist einen fertig formulierten Gedanken zu Papier zu bringen. Im Staatsexamen ist das meist der Fall, wenn du auf eine konkrete Frage eine konkrete Antwort geben kannst. Das ist überlebenswichtig, vor allem wenn es um (Doppel!-) Inzidentprüfungen geht.

4. Gewissen-Beruhigen statt effektivem Lernen:

Für mich ist eine Erklärung, wieso so viele Kandidaten über ein Jahr Vorbereitung brauchen, weil sie gar nicht bemerken, wie viel Zeit sie eigentlich mit Chatten, Spielen, Videos schauen, Kaffee trinken und Quatschen verbringen. Ich könnte es nicht auf eine exakte Formel bringen, aber Menschen, die es schaffen, mehrere Stunden eine Aufgabe ununterbrochen zu meistern, haben langfristig gesehen einen (enormen!) Vorteil. Man sieht es nicht in einem Lebenslauf, es ist kein Titel, den man vorzeigt, und meistens werden es andere noch nicht einmal erkennen. Aber es ist da, ein realer Faktor. Wenn ihr einen Kandidaten seht, der noch ein Jahr Zeit bis zum Staatsexamen hat, aber alle sieben Sekunden auf seinem Smartphone herumhackt – wettet auf einen anderen Kandidaten. Deshalb hatte ich mein Handy nie am Schreibtisch. Ich nahm mir morgens genau vor, was ich am heutigen Tag zu erledigen hatte. Auch wenn ich oft nicht alles geschafft hatte, wusste ich am Abend, dass ich etwas getan hatte und was es war. Im Gegensatz dazu war der Großteil meiner Lernkollegen zwar quantitativ länger vor den Büchern. Wenn sie netto mehr als zwei Stunden pro Tag gelernt haben, würde es mich aber wundern.

Es ist dasselbe Prinzip wie bei den Statistiken: Herr Staatsexamen ist es egal, wie viele Stunden ihr in der Bibliothek zum Lernen wart. Elf Stunden oder zwei Stunden macht für Herr Staatsexamen keinerlei unterschied. Er wird euch das niemals fragen. Ihm ist es egal, ob ihr euch gut oder schlecht fühlt, Kommentare lest, Repetitorien macht, euch mit anderen austauscht oder alleine in der Kammer sitzt. Alles, was ihn interessiert, ist, ob ihr seine Fragen beantworten könnt.

Im Großen und Ganzen habe ich sicher 10% der Zeit mit der Aneignung solcher Soft-Skills verbracht. Und ansonsten lernte ich einfach. Wie erörtert, war meine Herangehensweise weniger, alles wissen zu wollen, sondern (1) herauszufiltern, was wissenswert ist, (2) diese Dinge möglichst ohne grobe Fehler bearbeiten zu können und (3) alles andere wegzulassen. Ich schrieb regelmäßig Klausuren, allerdings vor allem zum Ende nur noch in Lösungsskizzen. Von Dezember bis Mitte Februar schrieb ich mehrere Blöcke von Klausuren unter Echtzeit-Bedingungen (5 Stunden, an den Tagen, an denen ich auch meine Klausuren im Staatsexamen schrieb, beginnend um 8.30 Uhr morgens). Das half mir, zu beobachten, wann ich essen und wieviel ich trinken musste/ konnte, um hydriert zu bleiben/ nicht zu oft auf die Toilette zu müssen. Eine Uhr hatte ich immer dabei. Ich plante alles, was ich planen konnte.

Insgesamt werde ich wohl um die 20 Klausuren unter Examensbedingungen geschrieben haben. Gelöst habe ich sicher doppelt so viele. Das sind wiederum mehr Schätzungen, setzt euch also keinen falschen Anker. Das Ziel muss die richtige Mischung aus Quantität und Qualität sein. Sören von Jura-Online hat das wiederum sehr gut auf den Punkt gebracht: Ihr schreibt im Staatsexamen Klausuren, also müsst ihr Klausuren schreiben können. Viele Kandidaten verbrauchen zu viel Zeit für Theorie und passivem Lernen. Das ist Prokrastination, denn die wirkliche Aufgabe ist, so schnell wie möglich Klausuren lösen zu können. Die Aufgabe ist gerade nicht, sich Unsummen an Wissen über einzelne Gebiete anzueignen.

Ungefähr im Dezember habe ich die Bücher von Winfried Schwabe entdeckt. Diese nutzte ich das erste Mal, um mich in bis dahin noch unbekannte Themen einzuarbeiten. In den letzten Tagen vor dem Staatsexamen wollte ich eigentlich noch einmal mehrere Examensblöcke schreiben. Ich entschied mich aber stattdessen dafür, alle Bücher von Schwabe noch einmal von vorne bis hinten durchzugehen. Und das war meine dritte gute Idee.

Ich arbeitete beinahe alle Fälle noch einmal durch, von BGB AT, bis zum Gesellschaftsrecht. Letztlich hatte ich damit sowohl für ZR, als auch ÖR ein Intensiv-Repetitorium in ein paar Tagen absolviert. Abends blätterte ich durch meinen Schönfelder – Norm für Norm – und schaute nach, ob ich zu jedem Paragraphen zumindest eine Kleinigkeit Schreiben könnte. Mit jedem neuen Paragraphen hatte ich mehr Munition. Ihr glaubt gar nicht, wie oft ich in der Klausur eine Gestaltung hatte, die ich erst vor ein paar Tagen mit Schwabes Büchern löste. Ohne die Bücher von Schwabe hätte ich das Staatsexamen sicher nicht geschafft. 

V. Fazit

Erfahrungsgemäß kommt Literatur nie ganz so bei der Leserschaft an, wie der Autor sich das wünscht. Ich möchte daher hier noch einmal hervorheben:

1. In keiner Art und Weise will ich sagen, dass das Staatsexamen mit vier Monaten Vorbereitungszeit immer geschafft wird. Was ich sage ist, dass es unter den richtigen Bedingungen möglich ist, das Staatsexamen in weitaus weniger Zeit als einem Jahr zu bestehen. Mit Bedingungen meine ich zum Großteil eine richtige Methode zur Vorbereitung.
2. Schon gar nicht will ich eine allgemeingültige Anleitung geben. Lernen ist persönlich, ihr müsst euren eigenen Rhythmus finden. Ich hoffe jedoch, euch mit meinen Hinweisen helfen zu können.
3. Ich will deutlich sagen: Ich halte das System des Staatsexamens für absolut ungeeignet, die Fähigkeit eines Anwalts vorauszusagen. Das sagt die juristische Zunft im Übrigen auch selbst – wieso sonst müssen angehende Anwälte, nachdem sie das 1. Staatsexamen bestanden haben, erst noch zwei Jahre praktische Ausbildung im Referendariat mit anschließend noch einer 2. Prüfung machen? Was ist dann der Zweck des ersten Examens? Es ist kein Zufall, dass fast alle Länder innerhalb Europas von solchen Systemen abgekommen sind. Oder sind schweizerische, belgische und englische Anwälte weniger qualifizierte Juristen?
4. Es ist möglich, in ein paar Monaten genügend Wissen anzuhäufen, um das Staatsexamen zu bestehen. Wesentlich dafür ist, das Richtige richtig zu lernen.
5. Das Staatsexamen ist kein Mysterium. Hinter all dem Lärm geht die Quintessenz verloren: Am Ende des Tages handelt es sich einfach um sechs Klausuren, die am Ende des Studiums absolviert werden müssen. Versteht mich bitte nicht falsch: Das Staatsexamen ist nicht einfach. Aber es könnte durchaus schwieriger gestaltet sein. Stellt euch vor, es gäbe nur eine Klausur, die über euer weiterkommen entscheidet. Oder ihr müsstet zwingend alle sechs Klausuren bestehen. Ihr werdet weitaus Schwierigeres in eurem Leben schaffen. Für andere Menschen verantwortlich sein. Kinder erziehen. In Sinnkrisen stecken. Nehmt das Staatsexamen ernst, aber seht es in gesunder Relation zu anderen Dingen im Leben.
6. Und zum Schluss: Dinge zu tun, weil Andere dies so tun, ist einfach nicht gut genug. Das betrifft Repetitorien, Lehrveranstaltungen, Bücher, Materialien... Aber vor allem das Leben selbst. Die Quintessenz der Universität, so war es immer gedacht, ist, selbständig nachdenken zu können. Charlie Munger sagt, wenn du die Gegenansicht nicht besser vertreten kannst, als deine eigene, solltest du deine Klappe halten. Wenn euch das nächste Mal jemand über den Weg läuft der behauptet, man müsse ein Jahr auf das Staatsexamen lernen – fragt ihn, wieso das so sein soll. Ist die Antwort nicht überzeugend, sagt das mehr über euer Gegenüber, als über den Stand eurer Vorbereitung aus.